Im Kontext von Menschenrechten spielen internationale Abkommen und Organisationen eine große Rolle. Als UN-Sonderberichterstatter für Minderheitenrecht spricht Dr. Fernand de Varennes über aktuelle Versuche, gehörlose Menschen als Sprachminderheit zu definieren. Er fasst uns die neuesten Entwicklungen und den Standpunkt der Vereinten Nationen dazu zusammen.
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[GW.tv]: Im Laufe ihrer langen Karriere als Lehrer, Forscher und UNO-Sonderberichterstatter haben Sie die Entwicklung der Minderheitenrechte verfolgt. Was waren die größten Änderungen?
[Fernand de Varennes]: Nun, eine der größten passierte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ursprünglich wurden Minderheiten in den Menschenrechtsdokumenten der Vereinten Nationen überhaupt nicht anerkannt. Es begann erst in den 1960er und 70er Jahren. Es gab einige weitere neue Verträge, wie der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“, die tatsächlich anerkannt haben, dass ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten das Recht haben, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihre eigene Religion zu praktizieren, oder ihre eigene Kultur gemeinsam zu genießen. Es gab also eine Entwicklung: nach dem Ersten Weltkrieg haben die ersten Menschenrechtserklärungen keine Rechte für Minderheiten beinhaltet, mit der Zeit bis hin zu den 1960ern haben weitere Dokumente Minderheitenrechte als Menschenrechte kontinuierlich aufgebaut.
[GW.tv]: Wir haben heute viel über sprachliche Rechte und sprachliche Minderheiten gesprochen. Welche Vorteile hat es, gehörlose Menschen als sprachliche Minderheit zu definieren?
[Fernand de Varennes]: Einer der wichtigsten Vorteile von dieser Definition ist, dass ihre Sprache als echte Sprache anerkannt wird, als natürliche Sprache. Zweitens, dass es eine Gemeinschaftsdimension gibt. Es sind nicht nur Einzelpersonen, die Gebärdensprachen verwenden, sondern sie sind Teil einer Gemeinschaft, einer Minderheitengruppe. Ich denke also, dass dies ein wichtiges Element ist, das die Rechte von gebärdenden Personen stärkt. Nicht nur als Individuen, die eine Art Werkzeug zur Kommunikation benutzen, sondern sie besitzen auch eine Kultur, die sie mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppen teilen.
[GW.tv]: Wir sprechen oft von der Gehörlosen-Community. Betrachtet die UNO gehörlose Menschen als eine globale Minderheit? Oder nur als eine Gruppe von verschiedenen nationalen sprachlichen Minderheiten?
[Fernand de Varennes]:Die kurze Antwort ist, dass wir es mit einer Reihe von verschiedenen Gebärdensprachen zu tun haben. Deswegen gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprachminderheiten und Personen, die sie verwenden. Jede Sprache gehört also einer eigenen Community an. Das wäre die einfache Antwort auf diese Frage.
[GW.tv]: Und die längere Antwort darauf?
[Fernand de Varennes]:Die längere Antwort ist, dass selbst bei der UNO die Anerkennung von Gebärdensprachen als sprachliche Minderheiten ein neues Phänomen ist. Erst in den letzten zehn Jahren haben wir uns wirklich in diese Richtung entwickelt. Was bedeutet das im Zusammenhang mit anderen Rechten? Was bedeutet es also, die Rechte einer sprachlichen Minderheit zu haben? In dem speziellen Fall von gebärdenden Personen wird es etwas sein, das wir noch ein wenig weiterentwickeln müssen. Mein Mandat, der Sonderberichterstatter der UNO für Minderheitenfragen, hat das offiziell anerkannt, aber es muss mit anderen Mechanismen der UNO weiterentwickelt werden, bis wir ein besseres Verständnis dafür haben, was die Menschenrechte für gebärdende Personen sind und was das in der Praxis bedeutet, wenn man internationale Menschenrechtsverträge anwendet.
[GW.tv]: Die letzten Jahre waren von großen politischen Veränderungen geprägt. Selbst hier in Europa bzw. in der westlichen Welt. Werden sich diese Änderungen auf die Rechte von Minderheiten auswirken?
[Fernand de Varennes]: Ich denke ja, in einem globalen Kontext. Wir müssen ehrlich sein. In einigen Ländern wird die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte abgelehnt. Einige Länder entwickeln sich rückwärts, muss man ganz offen sagen. Wir haben es in den USA gesehen, wie der ehemalige Präsident, der auch der neue Präsident ist, grundsätzlich erklärt hat, dass sich die USA von den internationalen Menschenrechtsabkommen zurückziehen werden. Also Verträge und Verpflichtungen. Ich denke, dass wir im Bezug auf gebärdende Personen feststellen müssen, dass das Engagement vieler nationaler Regierungen für die Menschenrechte heute schwächer ist. Es wird also eine Herausforderung sein, diese Regierungen und auch internationale Organisationen diesen Zustand besser festzustellen, die Rechte besser zu schützen sowie bessere Gesetze und Rechte dafür einzusetzen, wo es, offen gesagt, fast eine Feindseligkeit gegenüber den Menschenrechten im Allgemeinen gibt.