Prof. Christian Rathmann gilt als einer der wichtigsten gehörlosen Sprachwissenschaftler. Er hat den langen Weg von der Humboldt-Universität Berlin nach Salzburg unternommen um seinen Vortrag zu halten. Er argumentiert dafür, die Gehörlosen-Community auch als Sprachminderheit rechtlich zu definieren. Im Interview fasst er diese unterschiedlichen Perspektiven zusammen.
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Transkript (Original in DGS):
[GW.tv]: Viele Länder verknüpfen Gehörlosenrechte mit Behindertenrechten. Einige fordern, die Gehörlose-Community im Recht als sprachliche Minderheit zu definieren.Was soll das bringen?
[Christian Rathmann]: Die Frage stellt sich also, wie die behindertenrechtliche und die sprachrechtliche Perspektive zueinanderstehen. Im Bereich des Behindertenrechts blicken wir auf jahrzehntelange Forderungen nach Zugang und Teilhabe zurück. Diese Bestrebungen waren und sind von großer Bedeutung. So sieht das im Bereich des Behindertenrechts aus. Aber parallel dazu ist auch die sprachrechtliche Perspektive von großer Relevanz. Es handelt sich dabei um nichts Neues, bereits der Weltverband der Gehörlosen widmete sich dieser Perspektive. Die Kernaussage ist dabei, dass Behindertenrecht und Sprachrecht dabei in keinem Widerspruch stehen müssen. Beide Perspektiven sollen bestehen bleiben.
Die sprachrechtliche Perspektive ist besonders in Hinblick auf Gebärdensprachen zentral. Gebärdensprachen sind genau so als Sprachen wertzuschätzen, wie andere Sprachen. Im behindertenrechtlichen Kontext geht es mehr um das Schaffen von Zugängen. Sei es jetzt etwa für die Teilhabe von Menschen mit Seh- oder Mobilitätseinschränkungen. Beim Sprachrecht geht mehr um die Anerkennung von verschiedenen Minderheitensprachen, wie es sie bspw. in Österreich gibt. Dabei wäre es wichtig ÖGS rechtlich gleich zu behandeln. Die Grundlage ist, dass beide Perspektiven parallel zueinander bestehen. Sie müssen sich nicht überlappen, aber ergänzen. Zentral ist, dass Gebärdensprachen und ihre Sprachgemeinschaften als kulturstiftend wertgeschätzt und weitergetragen werden.
Versuchen wir uns einmal vorzustellen, dass Gebärdensprachen als Minderheitensprachen anerkannt werden. Der Vorteil für gehörlose Personen liegt auf der Hand. Aber es bedeutet auch, dass alle Personen aus der Kultur schöpfen können und zu ihrem Fortbestehen beitragen. Der Schlüsselbegriff ist hier die Herkunftssprache. Damit sind sowohl gehörlose als auch hörende Personen gemeint, die in einem gehörlosen Familie aufwachsen. Der Vorteil ist, dass im schulischen Kontext geklärt ist, dass Gebärdensprache als Erstsprache des Kindes gilt. Das würde auch zu entsprechendem Respekt und Wertschätzung führen. Darauf aufbauend kann dann eine Zweitsprache erlernt werden. Das ist ein Vorteil.
Der zweite Vorteil ist, dass die Kultur so gefördert wird und dass die Sichtbarkeit von Gebärdensprache in den Medien gefördert wird. Kultur ist in der Behindertenrechtsperspektive nicht enthalten. Kultur ist eindeutig der Sprachrechtsperspektive zuzuordnen. Dolmetschen ist vom sprachrechtlichen Kontext hingegen losgelöst. Naja, das ist ein bisschen zweischneidig. Das Ziel hinter dem Einsatz von Dolmetscher:innen ist es, Zugang für gehörlose Personen zu schaffen. Dieser Zugang ist wichtig und kann klar dem Behindertenrecht zugeordnet werden. Ich weiß, Dolmetscher:innen nehmen sich selbst als Sprachvermittler:innen wahr. Ich sehe das anders. Die Aufgabe von Dolmetscher:innen ist es, gehörlosen Personen Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen. Das ist ein Thema, das man diskutieren kann. Natürlich ist der Zusammenhang zur sprachrechtlichen Perspektive gegeben, zumal Dolmetscher:innen ja Gebärdensprache verwenden. Der Bezug zur behindertenrechtlichen Perspektive ist aber stärker. Es ist wieder ein Zusammenspiel aus beiden Perspektiven.
Ihr habt mich auch gefragt, wie das bei Codas aussieht. Ich verwende den Begriff Herkunftssprache. Der Begriff Coda meint wiederum etwas anderes. Mit Herkunftssprache ist die Sprache gemeint, mit der man in der Familie aufgewachsen ist. Das ist also unabhängig davon, ob man hörend oder gehörlos ist. Gehörlose Migrant:innen verwenden zum Beispiel in der Familie zwei Gebärdensprachen. Das ist auch damit gemeint. Das könnte z.B. ein Paar sein, wo eine Person Französische und die andere Österreichische Gebärdensprache verwendet. In diesem Beispiel haben die Kinder dann das Recht auf beide Sprachen. Deshalb ist wichtig, in diesem Fall das Wort Herkunftssprache zu verwenden. Damit ist die Sprache gemeint, die innerhalb der Familie verwendet wird. Dabei ist es egal, ob man hörend oder gehörlos ist. Das hat nichts mit dem Gehör zu tun.
Bei dem Thema Identität gehörloser Personen halte ich mich ein bisschen zurück. Es gibt so viele verschiedene Identitätskonstrukte. Dieses Thema muss man in seiner Vielfalt respektieren. Das ist auch nicht die Aufgabe des Gesetzes, hier Definitionen zu schaffen. Identitäten bleiben also weiterhin individuell. Wichtig ist aber, dass gewisse Rahmenbedingungen geschaffen werden, die man sowohl aus behindertenrechtlicher als auch aus sprachrechtlicher Sicht klar darlegen kann. So kann man dann beide Perspektiven vorzeigen. Dabei ist zu respektieren, dass jede Person unterschiedlich aufgewachsen ist und verschiedene Erfahrungen gemacht hat. Das ist eine individuelle, persönliche und stets zu respektierende Angelegenheit. Aber diese beiden Perspektiven müssen stets berücksichtigt werden. Man kann sie nicht vernachlässigen. Das ist besonders wichtig.