Welchen Einfluss hat die visuelle Kultur von Gebärdensprachnutzer:innen auf ihre Wahrnehmung von Kunstobjekten? Dieser Frage geht Dr. Temenuzhka Dimova nach und zeigt uns erste spannende Ergebnisse.
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[Dr. Temenuzhka Dimova]: Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr, hier zu sein. Mein Name ist Temenuzhka Dimova. Ich bin Kunsthistorikerin. Ich habe mein ganzes Studium in Frankreich absolviert und arbeite dort auch im Museum of Fine Arts in Montpellier.
Und jetzt bin ich hier nach Wien gekommen, um ein Post-Doc-Projekt zu machen, das sich mit der Wahrnehmung von Kunstwerken beschäftigt und zwar in einem ganz besonderen Labor, das sich auf experimentelle Kunstgeschichte konzentriert. Das ist in unserem Bereich ziemlich außergewöhnlich. Deshalb bin ich hierher gekommen. Und ich bin sehr erfreut, dieses Projekt durchführen zu können.
[GW.tv]: Sehr interessant. Könnten Sie uns ein wenig mehr über Ihre Studie erzählen? Was ist das Ziel, der Zweck der Studie? Was ist der Ursprung? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in diesem Bereich zu forschen?
[Dr. Temenuzhka Dimova]: Im Labor für kognitive Forschung in der Kunstgeschichte, dem Creolab, in dem ich arbeite, sind wir sehr daran interessiert zu erfahren, wie Menschen Kunst wahrnehmen, wie sie Gemälde betrachten, wenn sie in die Museen gehen. Wo beginnen sie? Wie lange bleiben sie vor den einzelnen Kunstwerken stehen? Ob sie der Komposition folgen und ob alle Regeln, die wir aus unserer Theorie kennen, tatsächlich für den menschlichen Blick funktionieren oder eben nicht. Das ist also etwas, das wir aus der Theorie gut kennen.
Jahrhunderte lang haben sich Maler und Theoretiker vorgestellt, wie Menschen Kunst betrachten, aber sie haben das nie mit wissenschaftlichen Werkzeugen überprüft. Heute haben wir das Glück, dass wir Eye-Tracker haben. Das sind kleine Infrarotkameras, die die Bewegung der Pupille aufzeichnen, so dass wir genau sehen können, wie die Augen durch die Oberfläche des Gemäldes gehen, wie sie die Tiefe durchdringen, wie sie die ganze Geschichte betrachten. Und das ist für uns sehr, sehr interessant.
Und so entdecken wir, dass die Wahrnehmung von Kunst nicht nur von den Gemälden abhängt, sondern auch von den Menschen, von ihrem Hintergrund, ihrer Kultur, ihren Sehgewohnheiten und den Bedingungen, unter denen sie mit diesen Kunstwerken in Kontakt kommen.
Deshalb versuchen wir, verschiedene Kulturen zu vergleichen und zu sehen, wie sie sich verändern, wie Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund die Gemälde interpretieren und betrachten, und das war meine Idee, hierher zu kommen und bestimmte visuelle Kulturen zu vergleichen, die etwas über Gesten wissen.
Mein Forschungsbereich konzentriert sich insbesondere auf Gesten. Das war auch Thema meiner Doktorarbeit. Ich habe die kodifizierte Bildsprache, sozusagen die Zeichensprache aus dem 16., 17. Jahrhundert in allen europäischen Bildkulturen analysiert.
Ich habe also untersucht, was die Hände in der Malerei bedeuten und wie die Figuren mit den Händen kommunizieren, weil sie nicht sprechen können. Deshalb interessiere ich mich auch für die Gehörlosenkultur sehr, weil Gehörlose auch mit ihren Händen kommunizieren. Es gibt also viele Gemeinsamkeiten, aber diese beiden Welten kommunizieren nie wirklich miteinander, Kunsthistoriker:innen wissen fast nichts über Gebärdensprache. Es ist kein wirklich häufiges Forschungsthema in unserer Disziplin. Ich wollte also diese beiden Gemeinschaften miteinander verbinden.
[GW.tv]: Wunderbar. Das ist sehr interessant, wie diese beiden Welten da verbunden werden. Gibt es etwas, das Sie über die Verbindung verschiedener Forschungsbereiche mit der Gehörlosengemeinschaft, der Gehörlosenkultur, mitteilen möchten? Warum ist es wichtig, diesen Bereich in der Forschung zu behandeln?
[Dr. Temenuzhka Dimova]: Ja, genau. Was wir in diesem speziellen Projekt machen, ist, dass wir nicht Gehörlose mit Hörenden vergleichen. Wir vergleichen Gebärdensprachnutzer:innen mit einer spezifischen visuellen Kultur mit Studenten der Kunstgeschichte, die ebenfalls eine spezifische visuelle Kultur haben, weil sie es gewohnt sind, Gemälde zu betrachten. Diese beiden Gruppen haben also etwas mehr Erfahrung als normale Laien, die in ein Museum gehen. Wir haben auch eine dritte Kontrollgruppe von gewöhnlichen Laien, und wir dachten, dass Kunstgeschichtsstudent:innen die Gemälde aufgrund ihrer Ausbildung vielleicht besser verstehen.
Gehörlose werden aufgrund ihrer Sensibilität für Hände und visuelle Informationen auch etwas besser verstehen. Der Vergleich zwischen diesen drei Gruppen ist also das Herzstück unseres Projekts.
Ich denke, es ist sehr wichtig für die gesamte Forschung und den Bereich der Kunstgeschichte zu zeigen, dass es nicht nur die kunsthistorische Bildung ist, die uns hilft, visuelle Kunstwerke zu verstehen oder zu durchdringen, sondern auch einige linguistische Kulturen, die auf visuellen Sprachen basieren, wie eben Gebärdensprache. Deshalb ist das sehr wichtig.
Und ja, deshalb möchte ich mich schon jetzt bei Ihnen und all den anderen Vereinen in Wien bedanken, die uns geholfen haben, gehörlose Teilnehmer:innen zu finden. Wir hatten insgesamt 30 gehörlose Teilnehmer:innen. Das ist eine ganz außergewöhnliche Leistung.
Und, wir sind jetzt dabei, die Daten zu analysieren. Damit sind wir noch nicht fertig. Vielleicht können wir sie nächstes Jahr veröffentlichen und ich werde Ihnen dann davon berichten. Aber ich kann Ihnen schon jetzt einige kleine Punkte mitteilen, die ich entdeckt habe.
Unsere Hypothese hat sich also bestätigt. Es stimmt, dass Gebärdensprachnutzer:innen sensibel für Gesten in der Malerei sind, auch wenn sie nicht wissen, was die Gesten bedeuten, weil diese sehr kodifizierte Handzeichen sind. Aber sie gehen auf diese Bereiche zu und versuchen, sie zu verstehen. Dadurch können Sie gute Vermutung über das Thema anstellen, ohne das Thema aber vorab zu kennen. Kunstgeschichtsstudent:innen hingegen achten auch auf andere Details. Sie achten auf symbolische Objekte, auf den Hintergrund oder auf etwas, das sie aus ihrem Studium kennen.
Beide Gruppen konzentrieren sich also auf einige Bereiche, die für den normalen, so genannten Laienbetrachter:innen fast unsichtbar sind. Und sie sind in der Lage, das Thema besser zu interpretieren.
Das ist ein sehr wichtiges und interessantes Ergebnis. Und sie sind auch explorativer. Sie schauen sich in einem Gemälde um. Sie decken mit ihrem Blick eine größere Fläche ab als die Laienbetrachter:innen.
Und das ist auch ein gemeinsamer Punkt mit den Kunstexpert:innen.
Ich versuche also, diese Linie zu erforschen. Es sieht so aus, als seien gehörlose Gebärdensprachnutzer:innen auf diesem Gebiet Expert:innen. Das ist vielleicht nicht im klassischen Sinne, aber ein bisschen wie Expert:innen in der Malerei.
[GW.tv]: Die Zusammenhänge, die Sie gerade erklärt haben, sind sehr spannend. Möchten Sie vielleicht in Zukunft noch etwas anderes in diesem speziellen Forschungsbereich erforschen? Vielleicht gehörlose Künstler:innen oder gehörlose Menschen mit einem Bildungshintergrund in Kunst und Kultur? Ist da schon etwas in Planung für die Zukunft?
[Dr. Temenuzhka Dimova]: Auf jeden Fall. Das ist ein riesiges Feld. Es ist also völlig unerforscht. Und ich möchte auf jeden Fall weitermachen, vor allem mit gehörlosen Expert:innen, denn als wir dieses Projekt einigen Kolleg:innen vorstellten, waren die ersten Reaktionen: “Okay, ihr habt Laien-Hörende, ihr habt Experten-Hörende und ihr habt nur Laien-Gehörlose, aber ihr habt keine Experten-Gehörlosen.”
Es ist also ein bisschen… Es muss aber international sein, um eine ausreichende Anzahl von Expert:innen zu finden. Dafür muss man eher in die internationale Gemeinschaft gehen. Und das will ich auf jeden Fall tun.
Was die Kunsterziehung für Gehörlose angeht, ist diese meiner Meinung nach in der zeitgenössischen Kunst recht gut entwickelt, auch in der angewandten Kunst, aber nicht genug in der antiken Kunstgeschichte. Das ist es, was ich betonen wollte. Eigentlich möchte ich gehörlose Personen dazu ermutigen, Kunstgeschichte zu studieren oder sich mit dem bildnerischen Erbe auseinanderzusetzen.
Ich möchte ihnen sagen, dass sie keine Angst vor diesem Bereich haben sollten, weil sie sehr natürliche Fähigkeiten und Vorteile haben, um in diesem Bereich tätig zu werden. Ich möchte also auf jeden Fall sowohl mit der Forschung als auch mit der Vermittlung dieser Möglichkeit an die Gemeinschaften hier und in Frankreich, wohin ich vielleicht zurückkehre, und überall weitermachen.
[GW.tv]: Das ist auch sehr interessant, ein sehr großes Potenzial. Ja. Das führt uns zu unserer letzten Frage. Haben Sie eine spezielle Botschaft für die Gehörlosengemeinschaft? Möchten Sie gehörlosen Künstler:innen
oder jungen gehörlosen Menschen etwas mitteilen?
[Dr. Temenuzhka Dimova]: Ja, auf jeden Fall. Ich möchte sie in die Welt der Kunstgeschichte einladen, weil z.B. Museen weltweit regelmäßig Besuche in Gebärdensprache anbieten. Aber normalerweise hat man hörende Guides und Dolmetscher:innen, die den Besuch dolmetschen. Aber die Communities wünschen sich hier wirklich gehörlose Guides.
In Frankreich haben wir zum Beispiel in Paris welche, aber sie sind sehr selten. Wir haben immer noch keine ausgebildeten, gehörlosen Guides, zumindest keine Gebärdensprach-Guides. Es handelt sich also um eine offene Stelle und um eine Gelegenheit. Ich möchte die jungen Student:innen und Menschen, die in verschiedenen Bereichen arbeiten, einladen, in Richtung Kunstgeschichte zu gehen, weil sie in den Museen arbeiten können. Und es wird für das gehörlose Publikum viel besser sein, wenn sie direkt in Gebärdensprache den Besuch erleben können. Außerdem glaube ich, dass gehörlose Personen ein großes Potenzial als Kurator:innen mitbringen. Ich sehe sie sowohl in Museumsausstellungen als auch in der Forschung. Besonders wegen ihrer Gebärdensprachexpertise und der Beherrschung des visuellen Ausdrucks. Mein persönlicher Traum ist es also, in Zukunft mit jungen gehörlosen Forscher:innen zu arbeiten und mehr gehörlose Guides in den Museen der bildenden Kunst zu sehen.
[GW.tv]: Ich danke Ihnen vielmals!
[Dr. Temenuzhka Dimova]: Ich danke Ihnen auch.
Dr. Temenuzhka Dimova ist in dem CReA-Lab (Cognitive Research in Art History) tätig. Weiterhin hat sie eine Affiliation mit dem Forschungsverbund Kognitionswissenschaft (Vienna Cognitive Science Hub).
Weitere Links zum Projekt und zu Dr. Dimova:
https://cogsci.univie.ac.at/about/pis-scientific-project-staff/temenuzhka-dimova/
https://crea.univie.ac.at/projects/following-the-festaiuolo/