„Die Bildungssituation für gehörlose Personen ist ein Armutszeugnis für die Schweiz“, so beschreibt Tatjana Binggeli das aktuelle System. Für ihren Doktortitel benötigte sie viel Mühe und insgesamt 11 Gerichtsverfahren. Mit Blick über Wien erzählt sie von ihren Erfahrungen als gehörlose Frau im Bildungssystem und ihre Forderungen.
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Die Aktionswoche auf Gebärdenwelt.tv:
- Montag: Der große Überblick — spannende Vorträge und schöne Momente mit einer Umfrage
- Dienstag: Internationalen Interviews: DGB-Präsident Ralph Raule und Fernanda Hintz vom Schweizer Gehörlosenbund
- Mittwoch: Interviews mit gehörlosen Akademiker:innen Jürgen Brunner und Clara Kutsch
- Donnerstag: Interviews mit WFD-Präsident Joseph Murray und ÖGLB-Vizepräsident Reinhard Grobbauer
- Freitag: Der Partytag! Das Abendprogramm beim Bildungskongress
- Samstag: Besuch aus der Schweiz — Tatjana Binggeli und Katja Tissi
- Sonntag: Zum Abschluss das Thema Jugend — wir werfen einen Blick auf das Jugend- und Kinderprogramm und sprechen mit Uni-Dozent Christian Stalzer über Jugendsprache
Transkript:
[Tatjana Binggeli]: Ich bin Tatjana Binggeli und komme aus der Schweiz.
[GW.tv]: Womit haben Sie sich in Ihrer bisherigen Laufbahn beschäftigt?
[Tatjana Binggeli]: Ich war bereits in vielen verschiedenen Bereichen tätig. Ich beschäftige mich aber vorrangig mit der Gehörlosencommunity. Bereits in jungem Alter war ich im Schweizerischen Gehörlosenbund sehr engagiert. Ich habe mich zum Beispiel mit anderen jungen Leuten zusammengeschlossen und demonstriert. Wir als Generation, die mit Gehörlosenschulen aufgewachsen sind, haben viel Diskriminierung erlebt. Besonders der Bildungsbereich hat uns dazu veranlasst, aktiv zu bleiben und für Veränderung zu sorgen. Ich war lange Vorstandsmitglied und Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes.
[GW.tv]: Das sind viele Tätigkeiten über die Jahre.Sie haben ja auch einen Doktortitel und somit viele Erfahrungen im Bildungssystem. Welche Veränderungen nehmen Sie wahr?
[Tatjana Binggeli]: Kurz zu mir: Ich wurde gehörlos geboren und bin in eine Gehörlosenschule gegangen. Also das war kein integratives Setting. Mein Bildungsweg war in dieser Form beschränkt auf ein eher niedriges Niveau. Wir wurden lediglich in der Schriftsprache und lautsprachlicher Kommunikation gefördert. Trotzdem wurde der gebärdensprachliche Austausch und unsere Kultur gefördert und gepflegt – und das, obwohl es zu einer Zeit des oralistischen Ansatzes war. Wir haben dennoch gebärdet. Ich entschied mich dann dazu, weiter in die Schule zu gehen. Ab diesem Zeitpunkt und bis zu meinem Doktorat war es ein wirklich schwieriger Weg. Das war hart, und ich konnte mir vieles nicht aussuchen.
Ich habe leider vieles auch durch gerichtliche Verfahren einfordern müssen. Wir hatten insgesamt elf Gerichtsverfahren. Wir haben gekämpft. Bei den Verfahren ging es vor allem darum, Zugang zur Schulbildung zu bekommen. Ich forderte, was gehörlose Personen dafür alles brauchen. Also sind wir insgesamt elfmal den Weg durch die Verfahren gegangen. Die Bildungssituation für gehörlose Personen ist noch am gleichen Stand wie vor 30 Jahren. In der Bildung hat sich nicht viel verändert. Aktuell gibt es ein paar Verbesserungen und neue Möglichkeiten. Aber der Zugang zu tertiärer Bildung ist auch heute noch von vielen Barrieren geprägt. Dafür sieht man in der Elementarbildung, dass Gebärdensprache fehlt. Dabei braucht es genau diese Bildung in Gebärdensprache durch gehörlose Vorbilder. Nur so können sie zu kompetenten Erwachsenen werden und einen tollen Bildungsweg einschlagen. Das steht aber in Beziehung zueinander, und man darf nicht erst bei den Erwachsenen anfangen.
Ich sage oft, dass ich die einzige Person mit Doktortitel bin – das zeigt auch etwas: Die Bildungssituation für gehörlose Personen ist ein Armutszeugnis für die Schweiz. Ich sollte nicht die einzige Person mit so hoher Bildung sein. Es sollte viel mehr geben! Personen, die Gehörlosenschulen besuchen, sollen genauso viele Bildungsmöglichkeiten erhalten. In der Schweiz wird der Zugang zur Matura nicht einfach allen gehörlosen Schüler:innen ermöglicht. Der Zugang zur Grundbildung ist natürlich gegeben. Aber selbst dort fehlen die entsprechenden Lerninhalte. Ich denke, es ist wichtig, dass es jetzt auch Gebärdensprachlehrer:innen gibt. Rückblickend, wenn man sich die Geschichte anschaut, hat sich schon einiges in eine professionellere Richtung entwickelt. Das betrifft sowohl das eingesetzte Personal als auch Materialien und Ausbildungen.
So bekommen die Kinder im Unterricht auch das, was sie wirklich brauchen. Auch das Lehrpersonal ist jetzt reflektierter. Ihnen ist bewusst, was sie als gehörlose Lehrende brauchen. Nur so können gehörlose Kinder vollwertige Bildungsmöglichkeiten bekommen. Wenn all die anderen Faktoren hinken, hinkt auch die Bildung. Ganz wichtig ist auch, dass gehörlose Lehrende hörenden gleichgestellt sind. Da sind sie aktuell noch im Nachteil.
[GW.tv]: Das ist tatsächlich eine herausfordernde Situation. Eine Frage möchte ich noch zu Ihrer Kandidatur für den Nationalrat stellen. Sie haben ja als erste gehörlose Person zur Abgeordneten im Nationalrat kandidiert. Werden Sie es bei der nächsten Wahl wieder versuchen?
[Tatjana Binggeli]: Ich bin ja nicht grundlos in die Politik gegangen. Ich habe das Gefühl, dass ich dafür schon seit meiner Kindheit ein gewisses Interesse habe. Als gehörlose Person stößt man halt immer wieder auf Barrieren. Da war mir schon immer wichtig, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen.
Auf der einen Seite sind die Erfahrungen mit unterschiedlichen Systemen wie Gesundheit, Bildung, Politik und Gesellschaft. Auf der anderen Seite kenne ich die Erfahrungen der Gehörlosengemeinschaft. Ich wohne im Kanton Aargau. Die Schweiz ist in 26 Kantone aufgeteilt. Ich war national die erste gehörlose Kandidatin – aus dem Kanton Aargau. Es gibt aber noch zwei weitere gehörlose Personen aus anderen Kantonen, die auch kandidierten. Also die politische Arbeit ist für mich wirklich sehr spannend. Auf der einen Seite läuft es wirklich schön, und ich genieße die gute Vernetzung. Es sind einfach noch mehr Personen und Erfahrungen, die ich so kennenlernen kann. Ich habe nicht nur Einblick ins politische System, sondern sehe auch wirtschaftliche und unternehmerische Aspekte. Das unterstützt den Prozess enorm. Für mich ist die tolle Zusammenarbeit mit den Menschen ein großer Pluspunkt.
Auf der anderen Seite gibt es noch wahnsinnig viele Barrieren. Das erste Thema ist die Übernahme der Gebärdensprachdolmetschkosten. Ja, das ist auch hier ein wiederkehrendes Thema. Das wird aktuell gar nicht bezahlt. Wenn ein spontanes Meeting mit Kolleg:innen geplant ist, ist das schwierig. Manchmal bekomme ich am Abend noch eine SMS für eine Besprechung am nächsten Tag um sieben Uhr früh. Na, wo soll ich da eine:n Dolmetscher:in herbekommen? Das erste Problem ist, dass es spontan nicht möglich ist. Das zweite Problem ist, dass die Kosten nicht übernommen werden. Es ist immer dasselbe Thema. Das ist wie ein Ball, der schnell immer jemand anderem in die Hand gedrückt wird. Dabei habe ich ein Recht auf vollständige politische Teilhabe – die ist so nicht gegeben. Ich sehe aber Chancen, dass sich da schlussendlich noch etwas verändern kann. Aber auch nur, weil es diesbezüglich einen starken Zusammenhalt gibt. Positiv ist auch, dass meine Kolleg:innen in der Politik durch mich eine gewisse Sensibilisierung bekommen. Meine Barrieren als gehörlose Person werden auch sichtbarer im Parlament. So ist auch ein reger Kontakt zwischen dem Parlament und dem Schweizerischen Gehörlosenbund entstanden. So vergrößert sich auch das Team und die Reichweite.
An die Spitze für den Kanton Aargau wurde ich leider nicht gewählt, obwohl die Stimmenanzahl überraschend hoch war. Sehr spannend! Eine Periode dauert immer vier Jahre. Ob ich beim nächsten Mal wieder antrete, weiß ich noch nicht.
[GW.tv]: Ok, es ist also noch offen.
[Tatjana Binggeli]: Ja, das ist viel. Auf der einen Seite gibt es meist positive Entwicklungen, und auf der anderen Seite sind die Barrieren.
[GW.tv]: Das kann ich gut verstehen. Können Sie uns noch kurz erzählen, worum es in Ihrem Vortrag beim Bildungskongress geht?
[Tatjana Binggeli]: Zunächst möchte ich betonen, wie wertvoll der Bildungskongress ist. Es ist eine Plattform für ganz wichtige Themen wie Gebärdensprache, unsere Kinder, Pädagogik und Bildung. Wichtig am Bildungskongress ist auch der Bezug zur UN-Behindertenrechtskonvention. Man kann wieder einmal darauf hinweisen, was noch nicht umgesetzt wurde. Viele kennen die UN-Behindertenrechtskonvention nicht oder haben nur einmal flüchtig davon gehört. Viele glauben, das sei sowieso ein Thema, das nur die Politik betrifft. Dabei ist es wichtig, dass wir alle die Inhalte der UN-BRK kennen.
Genauso wichtig ist es, sich das System und die Entstehung der UN-BRK bewusst zu machen. Wichtig ist hierbei, sich die Artikel zum Thema Bildung in Gebärdensprache anzusehen. Als Gebärdensprachlehrende sollte man diese Artikel kennen. Die Kenntnis der UN-BRK gibt auch eine persönliche Sicherheit. Darum ist es wichtig, sich in diesem Bereich weiterzubilden. Wenn ich als Lehrende die UN-BRK kenne, kann ich viele Barrieren abbauen. Hier ist es aber ganz wichtig, Expert:innenwissen heranzuziehen. Nur gemeinsam können Benachteiligungen im System nachhaltig verändert werden. Wir müssen zusammen kämpfen. Jede:r für sich alleine kommt zu nichts – wir müssen zusammenarbeiten.
Ein wichtiger Punkt ist noch die Repräsentation gehörloser Personen nach außen. Hier braucht es Multiplikator:innen, die ihr Wissen hinaustragen. Ja, das ist wirklich enorm wichtig. Das kann nur durch gehörlose Personen passieren.
[GW.tv]: Vielen Dank für Ihre Erzählungen.
[Tatjana Binggeli]: Danke auch.