In der ehemaligen Salzburger Taubstummenanstalt wurden gehörlose Kinder geschlagen, verprügelt und misshandelt. Durch die Volksanwaltschaft beantragen viele Betroffenen eine Heimopferrente. Wir haben mit Johanna Wimberger über die Vorfälle und die Arbeit der Volksanwaltschaft gesprochen.
Transkript des Interviews:
Gebärdenwelt: Johanna Wimberger von der Volksanwaltschaft, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben für uns.
Johanna Wimberger: Ja, gerne. Guten Tag!
GW: In den Jahresbericht schreibt die Volksanwaltschaft vom “sadistischen Treiben” der Erzieher:innen in Taubstummenanstalten, vor allem in Salzburg. Können Sie diese Vorfälle vielleicht kurz erläutern?
Wimberger: Seit etwa einem Jahr bekommen wir vermehrt Anträge auf die Heimopferrente von gehörlosen Personen. Und es haben sich jetzt schon mehrere 100 bei der Volksanwaltschaft gemeldet und eigentlich in allen Anstalten, aber auch in Salzburg zeigt sich das gleiche Bild wie auch schon bei anderen Einrichtungen, wo Kinder und Jugendliche längere Zeit untergebracht waren.
Die Kinder wurden gequält, misshandelt und es kam auch immer wieder zu sexuellen Übergriffen.
GW: Aus welchem Zeitraum kommen diese Meldungen?
Wimberger: Jetzt konkret: die Taubstummenanstalt in Salzburg betreffend reden wir von der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre.
GW: Das ist also vor einer langen Zeit passiert. Und erst letztes Jahr sind die Anträge auf Heimopferrente angekommen. Die grüne Landesrätin Martina Berthold hat gesagt, dass schon vor ihrer Zeit in der Regierung, dass die Politik sich mit dem Thema schon befasst hat.
Haben wir schon damals oder früher davon gewusst? Und warum passiert erst jetzt etwas?
Wimberger: Also an die Volksanwaltschaft herangetragen wurden diese Fälle jetzt vermehrt, seit es die Heimopferrente gibt. Das wurde 2017 im Parlament beschlossen. Seit damals können ehemalige Heimkinder auch Pflegekinder oder Personen, die in einer Krankenanstalt als Kind oder Jugendliche Opfer von Gewalt geworden sind, eine Zusatzpension bekommen.
Und bei der Volksanwaltschaft wurde eine Kommission eingerichtet, die diese Fälle bearbeitet und dann eine Empfehlung abgibt. Und seitdem gibt es immer wieder Anträge von gehörlosen Personen und vermehrt eben seit einem Jahr, weil der Gehörlosenverein in Salzburg und dann auch die Gehörlosenvereine in den Bundesländern ihre Mitglieder darüber informiert haben, dass sie auch Anspruch haben auf diese Heimopferrente. Wenn sie einen Antrag stellen und darlegen können, dass sie Opfer von Gewalt geworden sind.
GW: Wer trägt die Verantwortung für diese Vorfälle? Ist es das Land, die Schule selbst? Und wie können wir das jetzt wiedergutmachen?
Wimberger: Konkret muss man unterscheiden zwischen der Schule und dem angeschlossenen Internat. Man hat Anspruch auf Heimopferrente,wenn man darlegt, dass man während einer Unterbringung, das heißt, während dem Aufenthalt im Internat, Opfer von Gewalt geworden ist. Die Schulen bei den Taubstummenanstalten waren interne Schulen. Das heißt, es war im Prinzip ein ganzes System. Aber für unsere Prüfung ist diese sogenannte Unterbringung relevant.
Das heißt, wenn vereinzelt Schüler extern waren,das heißt nicht im Internat untergebracht, sondern zu Hause gelebt haben, dann ist das kein Fall für die Heimopferrente.
GW: Sie prüfen also die Fälle im Internat. Können Sie uns vielleicht etwas davon erzählen? Was ist genau dort vorgegangen? Warum war das genau dort so schlimm?
Wimberger: Man muss sich das so vorstellen, dass die Kinder dort sehr lange untergebracht waren und teilweise auch über ein ganzes Jahr von den Familien getrennt waren.
In manchen Anstalten war es üblich, dass die Kinder nur zu den großen Ferien heimfahren durften, das heißt nur Weihnachten, Ostern und den Sommerferien. Bzw. wenn die öffentliche Verkehrsanbindung recht schlecht war, dann konnten die Kinder vielleicht nur alle 14 Tage oder nur einmal im Monat nach Hause fahren. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, das Internat am Wochenende zu verlassen. Die Kinder durften dort in der Anstalt und auch in der Schule die Gebärdensprache nicht verwenden. Es wurde sogenannte Lautsprache-Methode unterrichtet, das heißt, die Kinder mussten Lippenlesen lernen bzw. mussten sie lernen selber Laute zu bilden und das Verbot der Gebärdensprache wurde auch mit Gewalt durchgesetzt.
Dann war es so, dass die Kinder teilweise gezwungen wurden zu essen bzw. Essensentzug wurde auch als Strafmaßnahme eingesetzt zum Beispiel, wenn man gebärdet hat oder wenn man sich nach Ansicht der Erzieherinnen und Erzieher nicht ordentlich benommen hat. Oder die Kinder wurden weggesperrt, in ein Kämmerchen eingesperrt oder sie wurden auch geschlagen.
Konkret zur Taubstummenanstalt Salzburg wurde uns auch über Haarausreißen berichtet, über Schläge berichtet. Was auch besonders schockierend war – das haben sehr viele Betroffenen uns gegenüber erzählt — dass Erzieherinnen von den Buben beim Duschen Fotos angefertigt haben. Und das ist natürlich eine sehr irritierende und beklemmende Situation. Muss man wirklich sagen.
GW: Ein ehemaliger Lehrer, Werner Leidenfrost, streitet diese Vorwürfe ab und meint, dass die Gewalt damals normal war. Laut ihm haben Schläge und Eckestehen zu der sogenannte Prügel-Pädagogik der Nachkriegszeit gehört. Sieht die Volksanwaltschaft das auch so? Oder war das dort ein besonders schlimm?
Wimberger: Das hört man immer wieder als Argument, aber damit kann man diese Gewalt natürlich nicht rechtfertigen.
Und nach Bewertung der Räte der Volksanwaltschaft ist es so, dass für die Gewährung der Heimopferrente die Beurteilung nach heutigem Strafrecht relevant ist. Das heißt, die Rentenkommission prüft konkret, ob die berichteten Vorfälle nach heutigem Gesetz zu bestrafen wären. Und das ist bei diesen Berichten auf jeden Fall zu bejahen.
Und man muss auch dazu sagen, es gab auch Erzieherinnen und Erzieher und auch Lehrerinnen und Lehrer, die von den Kindern als positiv bewertet werden. Also man hört immer wieder der Lehrer, die Lehrerin war sehr gut, da habe ich sehr viel gelernt. Oder ich hatte zwei Gruppenerzieher: die eine war sehr nett und die andere war brutal. Also es war nicht so, dass immer von jedem diese Gewalt angewendet wurde.
GW: Sie haben gerade erzählt von Fotografieren beim Duschen. Gab es auch Vorfälle von sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch?
Wimberger: Vereinzelt erwähnen das auch Betroffene, dass es da zu solchen Übergriffen gekommen ist bzw. dass sie das wahrgenommen haben, während sie dort in der Einrichtung untergebracht waren.
GW: 2002 wurde die Schule dann umbenannt auf die Josef-Rehrl-Schule. Der war ein damaliger Landeshauptmann und auch Schuldirektor. Viele fordern jetzt, dass die Schule wieder umbenannt wird. Können Sie das verstehen?
Wimberger: Also ich habe schon erwähnt, dass es an der Zeit ist, vor allem jetzt, wo diese Vorwürfe aufgekommen sind. Und auch der Josef Rehrl als Täter genannt wird von den Betroffenen, dass man das historisch aufarbeitet und dass man dann die Benennung der Schule nach dem Herrn Josef Rehrl auch überdenken sollte.
GW: Wir hören immer von den Vorfällen aus Salzburg, von der Taubstummenanstalt. Aber gibt es auch ähnliche Meldungen aus anderen Anstalten?
Wimberger: Genau. Wir bekommen eigentlich jetzt durchwegs zu allen Taubstummenanstalten in Österreich und auch in Österreich Meldungen und Anträge von Betroffenen. Und das Bild ist sehr ähnlich. Also man hört immer wieder diesen Vorwurf: Gebärdensprache war verboten, wurde auch bestraft, wenn man Gebärden benutzt hat und eben diese lange Trennung von der Familie und auch auf verschiedene Strafen und auch Kollektivstrafen. Das wiederholt sich in den Berichten.
GW: Wird es gerichtliche Konsequenzen für das damalige Lehrpersonal geben?
Wimberger: Leider ist es so, dass aus strafrechtlicher Sicht diese Vorfälle überwiegend schon verjährt sind und daher die Täterinnen und Täter nicht mehr verfolgt werden können.
GW: Rechtlich gesehen, geht es jetzt nur mehr um die Wiedergutmachung bzw. um die Vergabe der Heimopferrente.
Wimberger: Genau. Also konkret jetzt zu den Betroffenen, da muss man sagen, dass die damals nicht angehört wurden. Zum Beispiel wurde uns berichtet, ein Heimkind hat den Eltern erzählt, dass sie geschlagen wurde. Die Eltern haben sich an die Direktion gewendet, die Direktion hat das abgestritten, dann an die Erzieher weitergemeldet, was dann wieder dazu geführt hat, dass man wieder eine Prügelstrafe bekommen hat.
Daraus haben die Kinder gelernt: Es hat keinen Zweck, dieses Unrecht aufzudecken, oder haben vielleicht Schuld für sich selber gesucht.
Manche erwähnen dasselbe: Ja, es war damals so üblich oder ich habe es verdient, weil ich war ein unruhiger, lauter Schüler. Aber belastend ist das für diese Betroffenen auch bis heute. Und viele berichten jetzt erstmalig über diese erlittene Gewalt. Selbst den eigenen Familien oder Ehepartnern. Ehepartnern wurden bislang noch nicht erzählt und die Betroffenen sind aber emotional, nach wie vor sehr mitgenommen, wenn sie das erzählen. Das sehen wir in den Berichten.
GW: Von den Hunderten Betroffenen ist überhaupt keiner Rückmeldung oder keinem Bericht geglaubt worden?
Wimberger: Ich habe auch Berichte gelesen, wo es zu Verbesserungen gekommen ist. Zum Beispiel hat eine berichtet:Ihr Vater kannte den Herrn Direktor, also den Josef Rehrl. Deshalb wurde sie in der Schule verschont von den Lehrerinnen und Lehrern, aber den Erzieherinnen und Erziehern im Internat war diese Bekanntschaft zwischen dem Direktor und dem Vater nicht bekannt. Und dann hat sie dort schon Prügel bekommen. Also es berichtet auch nicht jeder über Prügel. Es sind durchwegs ganz differenzierte Schilderungen.
GW: Und dass das von der Politik oder von den Beamten auch nicht geglaubt worden ist?
Wimberger: Also die Kinder selber haben damals ja gar nicht die Möglichkeit gehabt, sich an irgendeine übergeordnete Stelle zu wenden. Die Eltern selber haben das vielleicht vereinzelt auch versucht, waren aber andererseits sehr froh, dass ihr Kind mit Beeinträchtigung, was damals auch ein gewisser Makel war, in eine Schule gehen konnte, dort betreut wurde und eine Berufsausbildung machen konnte und man hat daher nicht den Mut gehabt, sich bei der Obrigkeit darüber zu beschweren.
GW: Also der Versuch, das Beste aus einer Lebenssituation zu machen.
Wimberger: Und eine gewisse Hilflosigkeit, die es auch gegeben hat. Es gab keine Kontrollmechanismen. Ganz anders als wie es zum Beispiel heute ist.
GW Also, wenn eine gehörlose Person Opfer von Gewalt oder Diskriminierung geworden ist, Opfer von Gewalt oder Diskriminierung geworden ist, wie kann er oder sie das melden? Wie geht dann der Prozess weiter?
Wimberger: Es gibt einerseits für Pensionistinnen und Pensionisten die Möglichkeit, die Heimopferrente zu beantragen. Zuständig ist immer jene Stelle, wo man Pension bezieht. Also das ist üblicherweise Pensionsversicherungsanstalt. Personen, die keinen Anspruch auf eigener Pension haben, können beim Sozialministerium Service einen Antrag stellen. Man kann diesen Antrag auf die Heimopferrente aber auch zum Beispiel bei der Volksanwaltschaft einbringen. Personen, die noch keine Pension beziehen, können beim Land Salzburg die Gewährung einer einmaligen Entschädigung beantragen. Da gibt es bei der Kinder- und Jugendhilfe eine Anlaufstelle bei der Salzburger Landesregierung.
GW: Abschließend gibt es noch etwas, dass Sie sagen würden zu den ganzen Vorfällen oder ein letzter Appell?
Wimberger: Ja, ich bitte alle Betroffenen, sich einfach zu melden.
Es gibt Unterstützungsmöglichkeiten und die Volksanwaltschaft prüft auch wirklich jeden Fall sehr gewissenhaft und nimmt sich jeden Fall an und wir nehmen diese Vorwürfe auch sehr ernst und wollen den Betroffenen Gehör verschaffen.
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