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„Von allein passiert leider nichts“: Gehörlose Stadträtin Julia Probst im Interview

Seit 16. Mai 2022 ist Julia Probst Stadträtin in der deutschen Stadt Weißenhorn. Damit ist sie auch die erste gehörlose Stadträtin Bayerns. Wir haben mit ihr über ihre politische Arbeit gesprochen.

 

*Die Fragen und Antworten sind hier inhaltlich zusammengefasst. Das Interview wurde auf ÖGS (Helene Jarmer) und DGS (Julia Probst) geführt.

 

Transkript:

Helene Jarmer: ich freue mich, die erste gehörlose Politikerin in ganz Deutschland interviewen zu dürfen. Du bist nun Stadträtin in Ort Weißenhorn – kannst du mir mehr über deinen politischen Werdegang erzählen?

Julia Probst:  Sehr gerne! Im Jahr 2019 suchte die Grüne Partei gezielt nach Frauen. Weißenhorn hat mich direkt angefragt, ob ich mir denn vorstellen könnte, für die Liste zu kandidieren. „Warum nicht?“ So stellte ich mich im Dezember 2019 bei der Listenwahl zur Verfügung und kam auf Listenplatz 3. Bei den Wahlen waren die Stimmen ziemlich knapp gewesen, ich habe es nicht mehr geschafft, ein Mandat zu bekommen. Für mich persönlich war das nicht so schlimm gewesen, ich habe immerhin den ersten Schritt gemacht. 

Als ich erfahren habe, dass ich nachrücken kann, war ich ein bisschen geschockt, habe mich aber auch sehr gefreut, dass es jetzt doch noch geklappt hat.

Helene Jarmer: Was ist der Grund für deinen Wechsel von der Piratenpartei zur Grünen Alternative?

Julia Probst: Damals wankte ich zwischen Piratenpartei und der Grünen Partei – die Piraten waren die erste Partei, die ihren Parteitag mit Dolmetscher*innen in DGS durchführte! Das war für mich damals ein Motivationsgrund, der Partei beizutreten.  

Helene Jarmer: Du bist nun bei der Grünen Partei – wie schaut es mit der Bereitstellung von Dolmetscher*innen dort aus, seit du politisch aktiv bist? Wer übernimmt die Finanzierung von Dolmetschern?

Julia Probst: Beim ersten Termin im Stadtrat bin ich noch ohne Dolmetscher hingegangen, da der Termin sehr kurzfristig einen Tag vorher angesetzt war. Auf Verwaltungsebene konnte geklärt werden, dass sie aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen für die Dolmetscherkosten aufkommen müssen, auch für die Bereitstellung der Gebärdensprachdolmetscher*innen. Das war für mich persönlich eine Erleichterung, da es viel Aufwand ist Dolmetscher zu organisieren. Das ist so für alle gehörlosen Personen. Aber weil die Stadt auch das Organisieren übernimmt, kann ich mich voll auf die politische Arbeit fokussieren. Das ist eine sehr schöne Erfahrung für mich. 

Für mich ist es eine sehr positive Erfahrung, die Öffentlichkeitsarbeit in Gebärdensprache zu machen, auch zu zeigen wieviel klappt!

Helene Jarmer: Kannst du bitte konkretisieren, in welche Richtung deine Öffentlichkeitsarbeit geht? Wird sie erst durch deine politische Teilhabe möglich gemacht?

Julia Probst: Vor allem bei den öffentlichen Sitzungen mit Dolmetschereinsatz merkte ich, dass das Interesse der Zuseher*innen vorrangig den Dolmetscher*innen galt. Für sie ist das Neuland und keine Selbstverständlichkeit. Mein Wunsch ist, dass ihr Auftreten nicht mehr als exotisch wahrgenommen wird, sondern dass der Einsatz von Dolmetscher*innen als Werkzeug der politischen Teilhabe einfach zum Teil des täglichen Lebens gehört. 

Helene Jarmer: Was sind deine politischen Anliegen bisher, wo liegt dein persönliches Engagement in der nächsten Zeit?

Julia Probst: Mein Fokus liegt auf der grünen Kommunalpolitik vor Ort. 

Helene Jarmer: Kannst du mir persönliche Erfolgserlebnisse erzählen? Werden deine Anträge bei Abstimmungen angenommen?

Julia Probst: Ja, zum Beispiel der Antrag auf eine fahrradfreundliche Umgebung und noch einige andere. Das Thema Inklusion habe ich noch nicht behandelt. Ein Beispiel möchte ich gerne erzählen: Es war eine Präsentation über das Schwimmbad in Weißenhorn, da wurde das Kinder-/Babybecken neu geplant. Bei der Anhörung haben wir uns den Plan angesehen und da habe ich wegen der Barrierefreiheit nachgehakt. Es ist rausgekommen, dass das bei der Planung nicht ganz bedacht worden ist. Der Plan wurde geändert und es hat tatsächlich geklappt. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass man Personen auf Barrierefreiheit aufmerksam macht. Von allein passiert leider nichts. 

Helene Jarmer: Deiner Meinung nach wäre es wichtig, Verbündete zu habe, um das gemeinsame Ziel Barrierefreiheit zu erreichen.

Julia Probst: Ja.  

Helene Jarmer: Was ist dein Plan, wie man deine politische Teilhabe positiv beeinflussen kann? Konkrete Pläne?  

Julia Probst: Nächstes Jahr sind Landtageswahlen in Bayern. Ich habe schon die Nominierung geschafft für meinen Parteikreis. Im Jänner wird dann nochmal die Aufstellung gemacht und abgestimmt. Ich würde gerne im Landtag einziehen, da kann ich mehr bewirken, zum Beispiel in der Bildungspolitik in Bayern.

Helene Jarmer: Du bist selbst aktiv auf Twitter und hast fast 50.00 Follower, das ist eine hohe Zahl! Seit Jahr 2010 bist du auf dieser Plattform aktiv. Was sind deine Motive, wie haben sie sich im Laufe der Zeit verändert?  

Julia Probst: Durch Twitter habe ich viele politische Chancen auf Veränderung bekommen und habe das gut ausgenützt. Ein Beispiel möchte ich aus der Videobotschaft der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel nehmen, die nicht barrierefrei war. Durch mein Input wurden nachträglich noch Untertitel eingefügt. Ein Jahr später habe ich wieder einen Input in Richtung Gebärdensprache gesetzt – kurz gesagt, ich gehe auf dieser Plattform den Politiker*innen auf die Nerven. 

Helene Jarmer: Dein Motto ist also, durch Gedankenanstoß das Ziel erreichen, Veränderungen durch kleine Schritte. 

Julia Probst: Ja, genau! Ganz wichtig!

Helene Jarmer: Du hast auch einen Ableseservice. Zum Beispiel hast du beim Fußballspiel das Gesprochene abgelesen. Wie läuft es mit diesem Service? Was ist die Idee dahinter?

Julia Probst: Hintergrund war witzig, im Jahr 2006 war die Fußball-WM Deutschland. Ich saß mit meinen Freunden im Publikum. Und da war eine Situation mit Klinsmann, er war damals Bundestrainer, und dem Spieler Podolski. Es war das Spiel gegen Polen und Podolski ist ja in Polen geboren. Man hat gesehen, dass Podolski und ein polnischer Spieler sehr aggressiv aufeinander zugegangen sind. Und ich habe gesehen, wie Klinsmann gesagt hat: „Hör auf! Sie sind nichts wert!“ Da habe ich gelacht und meine Freunde haben sich gewundert warum. Ich habe dann gefragt, ob sie nicht gehört haben, was er gesagt hat!? Sie waren perplex, und haben erst jetzt gecheckt, dass ich das Gesprochene zwischen den beiden trotz der Entfernung und ohne Ton dennoch gut mitbekommen habe. Und ich habe erst bemerkt, dass es gar keinen Ton gibt. Da habe ich angefangen, für meine hörenden Freunde zu dolmetschen und später auch via Twitter die Informationen durch das Ablesen weiterverbreiten lassen und habe dadurch viel Aufmerksamkeit bekommen. 

Helene Jarmer: Das ist „Deaf Gain“, wie im Buch von Joey Murray. Wie können gehörlose Menschen durch die Gehörlosigkeit profitieren? Genau das hast du durch dein Ableseservice gemacht. Die hörenden Menschen wundern sich, welche andere Potenziale durch die Gehörlosigkeit entfaltet werden, das ist „Deaf Gain“.

Dein nächstes angestrebtes Ziel ist der Einzug in den bayerischen Landtag. Hast du da schon einige politische Punkte bzw. Statements überlegt bzw. vorbereitet?  

Julia Probst: In Bayern ist die Deutsche Gebärdensprache nicht sichtbar präsent, weiters ist mir aufgefallen, dass viele betroffene Eltern eines gehörlosen bzw. behinderten Kindes oft an Barrieren stoßen, wenn sie ihr Kind an der Regelschule schicken wollen. Sie wenden sich dann an die Politiker*innen. Die können da oft nicht viel machen, da die Schulen selbst entscheiden können und verweisen oft an die gängigen Gesetze/Regelungen. Im Klartext, die Eltern haben keine echte freie Schulwahl. Da müssten einige Punkte geändert werden, damit das möglich ist.  

Helene Jarmer: Das ist dein Herzensanliegen. 

Julia Probst: Ja. Barrierefreie Inklusion soll eine Selbstverständlichkeit sein! 

Helene Jarmer: Wie schaut es mit der politischen Inklusion in deiner Partei aus? Fühlst du dich da gut integriert?

Julia Probst: Aufgrund Covid-Situation fanden viele Sitzungen per Skype statt.

Helene Jarmer: Gebärde Ski? 

Julia Probst: Skype – kennst du Skype. ich gebärde so.

Helene Jarmer: Ah, Skype gebärdet bei mir so.

Julia Probst: Ich weiß nicht, warum ich Skype so gebärde. Ich bin da überrascht, da die Untertitelqualität bei Skype vielfaches höher ist als beim TV, dann kann ich gut mitlesen und auf diese Weise die Sitzungen mitverfolgen.

Helene Jarmer: Was waren deine Pläne vor 10 Jahren, was ist daraus geworden? Hast du damals schon politisches Interesse gezeigt? Und wo siehst du dich selbst in den nächsten zehn Jahren? Wie soll dein Weg verlaufen?

Julia Probst: Vor zehn Jahren? Muss mal überlegen. Mit der Zeit merkte ich, dass ich in der Politik mitmachen muss, das ist wie ein Feuer in mir. Es muss sich mehr ändern. Die ganze Situation muss in Bewegung kommen. Langsam nervt mich aus einer Erfahrung, dass meine direkten Meldungen an die Politik nichts bewegt haben. Mein Geduldsfaden war gerissen, ich habe resigniert. Ich hielt erst ein wenig Abstand, merkte aber, ich brenne weiterhin für die Sache. Sicher kennst du das, oder? 

Helene Jarmer: Ja. 

Julia Probst: Sicher kennst du die Situation, wo man nach Enttäuschung erstmals genug hat. Ich musste das einfach machen! 

Helene Jarmer: Das Feuer in dir ist da. Es muss einfach weitergehen. 

Julia Probst: Ja, ich mache Politik nicht nur für mich, sondern für alle Menschen, wobei mein Schwerpunkt natürlich gehörlose Menschen sind.  

In meiner Tätigkeit als Stadträtin behandle ich auch andere Themen, nicht nur Inklusion. Zum Beispiel nachhaltiges Bauen, Digitalisierung und Naturschutz. Es wäre nicht gut, wenn ich mich nur auf einen bestimmten Bereich fokussiere, das wäre zu einseitig.  Ich muss für alle Themen offen sein. Zum Beispiel ist beim Bauen auch Inklusion integriert. HJ: Ja, stimmt. JP: Inklusion ist überall drin. 

Was ich nie vergessen werde: Bei meinem Aufenthalt vor 2 Jahren in Schweden sah ich beim Besuch einer (Volks-) Schule für Gehörlose eine taubblinde Lehrerin. Ich war da echt sprachlos. Wow, das hat mich geprägt! Sie hatte eine persönliche Assistenz, die sie mittels taktiler Gebärdensprache auf dem Rücken unterstützte, während sie unterrichtete. Das hat funktioniert! In Deutschland ist das unvorstellbar. 

Mein Traum wäre eine Veranstaltung zum Thema Gebärdensprache im Bundestag, mit Diskussionsrunden unter Einbeziehung von Wissenschaftler*innen über die Aspekte der Gebärdensprache. Warum ist sie in den anderen Ländern wie Südkorea anerkannt, warum klappt das in Deutschland nicht?

Was mir noch auffällt, dass die meisten Politiker*innen mit Behinderung von der Grünen Partei aufgestellt werden. 

Helene Jarmer: Gut, dann hast du den richtigen politischen Weg eingeschlagen, zuerst bei der Piratenpartei und nun bei den Grünen. Schauen wir, was dein politischer Weg noch alles bringen wird.

Hast du zum Abschluss noch ein Statement beziehungsweise ein Anliegen auf dem Herzen? Eine wichtige Botschaft an alle? Etwas, was du unbedingt sagen/gebärden möchtest? 

Julia Probst: Mein Wunsch an die Gehörlosengemeinschaft ist, dass sie die Gehörlosenpolitik aktiv unterstützt. Ich bin allein, muss mich durchsetzen. Mir fehlt Background, der Rückenwind der Community. Ich bin in der Politik, damit auch andere gehörlose Menschen Chancen bekommen. Auch Networking ist wichtig, damit es Nachfolger für meine Arbeiten gibt. Ich stelle mir bildlich vor, wie man etwas aufbaut, die nächste Generation unterstützt und baut weiter darauf auf. Genau das ist nicht selbstverständlich in der Gehörlosengemeinschaft, der Solidaritätsgedanke und das Networking.

Helene Jarmer: Du meinst, innerhalb der Community sollte es mehr Networking geben im Sinne eines Rückhalts und der Unterstützung für deine politische Arbeit? 

Julia Probst: Ja. Das sollte in der Gehörlosenpolitik selbstverständlich sein. Persönlich finde ich schade, mich als Einzelkämpferin zu fühlen. Aus der politischen Sichtweise weiß man welche Möglichkeiten es gibt. Die meisten Gehörlosen verstehen das nicht und können oft nicht nachvollziehen, dass ich nicht alles verändern kann, dazu brauche ich ihre Unterstützung. 

Helene Jarmer: Korrekt, ein einzelner Mensch kann nicht allein die Welt verändern. Das ist eine schöne Botschaft an allen. Wenn etwas bewegt/verändert werden soll, müssen alle gemeinsam am Strang ziehen. 

Herzlichen Dank für das Interview. Wir vom Team Gebärdenwelt werden deine politische Entwicklung mitverfolgen und der Community auf dem Laufendem halten. 

Julia Probst: Ja, dafür stelle ich mich gerne zur Verfügung, es hat Spaß gemacht.  

Foto/Video Credits: Gebärdenwelt.tv
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