Das Leben „fühlen“
Mein Name ist Bigi Baumann. Ich bin aus Wien, und gehörlos aufgewachsen. Als ich ungefähr 17, 18 Jahre alt war wurde ich Taubblind, bekam das Usher Syndrom. Was ist Usher? Das ist eine Gesichtsfeldeinschränkung. Zum Beispiel eine Eule kann 360° rundherum sehen. Gesunde Menschen können 180° sehen also nur die Hälfte. Ich mit Usher Syndrom kann 5-25° sehen.
Erstens durch Gebärdensprache mit Abstand, zweitens durch taktile Gebärdensprache, drittens durch Lormen (wenn Buchstaben auf der Hand gezeigt werden) oder viertens durch Haptik. Das sind Körperzeichen, wenn ein Assistent oder ein Freund hinter mir sitzt und vorne wird ein Vortrag gehalten, und ich bin taubblind – sehe schlecht oder gar nicht – dann sehe ich nicht wenn geklatscht wird. Derjenige der hinter mir sitzt klopft mir dann mit der flachen Hand auf den Rücken und so weiß ich, dass ich klatschen kann. Oder wenn draußen die Sonne scheint oder wenn es regnet – mit den Fingern „klopfen“ bedeutet, dass es regnet. Oder wenn ein Smiley auf den Rücken gezeichnet wird, heißt das, mir geht’s gut, oder jemand lächelt. Dann kann ich zurücklächeln.
Ich war im Kindergarten und in der Schule, da hab ich gut gesehen. Nur hatte ich Gleichgewichtsstörungen. Meine Mama hat das beobachtet und gedacht das hängt mit meiner Gehörlosigkeit zusammen. Als ich dann 17, 18 Jahre geworden bin, wollte ich den Auto-Führerschein machen. Meine Mama hat aber schon bemerkt, dass ich nicht so gut sehe. Wir sind dann zusammen – früher gab es Dolmetscher noch nicht so wie heute, jetzt ist es besser – also hat mich meine Mama begleitet. Wir sind dann zum Augenarzt gegangen. Der hat mich untersucht, hat eine Gesichtsfeldkontrolle gemacht und festgestellt, dass ich keinen Führerschein machen kann.
Trotzdem habe ich eine Überweisung ins AKH Wien bekommen. Meine Mama hat mich wieder begleitet und dort gesagt: „Meine Tochter möchte den Auto-Führerschein machen“. Dort wurde wieder eine Gesichtsfeldkontrolle gemacht und ich wurde untersucht. Dann hat man dort gleich gesagt, dass ich keinen Auto-Führerschein machen kann. Wir haben gefragt: „Warum?“ Das war dann eine lange Diskussion. Der Arzt hat dann gesagt: „Ihre Tochter hat Probleme mit den Augen, eine Augenkrankheit. Aber was genau ist noch nicht ganz klar, es ist ein Tunnelblick.“ Meine Mama hat dann gefragt was das ist. Der Arzt hat erklärt, dass das wie bei einem Tunnel auf der Autobahn ist. Den Tunnel sieht man scharf, den Rest nicht.
Mit 17 oder 18 Jahren war das Gesichtsfeld noch relativ groß aber in Zukunft mit dem Älterwerden, wird das Gesichtsfeld langsam kleiner. Das ist bei jedem unterschiedlich wie schnell das geht. Meine Mama war geschockt und hat lang mit dem Arzt diskutiert. Ich war auch aufgeregt, habe gefragt was gesprochen wird und geweint. Meine Mama hat dann gefragt ob sie ein gesundes Auge mit mir tauschen könnte. Der Arzt hat aber erklärt, dass das nicht geht weil dabei die Nerven kaputt gehen würden.
Also mussten wir akzeptieren dass mein Gesichtsfeld immer kleiner werden würde. Ich war dann die nächsten 2-3 Jahre depressiv und traurig. Hatte aber Ablenkung wenn ich mit meinen Freunden zusammen war oder wir zusammen fortgegangen sind. Wie soll man kommunizieren? Man soll in einem bestimmten Abstand sein und die Hände nicht zu weit unten haben sondern eher oben. Auch nicht zu schnell gebärden sondern eher langsam. Und vor einem schwarzen Hintergrund sieht man es auch besser. Der Raum soll hell sein für einen guten Kontrast, aber zum Beispiel ein Fenster im Hintergrund ist nicht sehr gut, dass ist zu hell. Besser ist eine Wand im Hintergrund und gute Beleuchtung. Wichtig ist auch der Abstand.
Viele Usher Betroffene haben da unterschiedliche Bedürfnisse was den richtigen Abstand betrifft. Das ist auch abhängig davon wie viel Grad sie sehen können. Wer nur mehr 1-2° sieht braucht taktile Gebärdensprache. Ich arbeite im Büro und habe dort einen Computer mit einem großen Bildschirm und Bild-Zoom-Text. Das bedeutet, wenn ich die Schrift nicht lesen kann, kann ich das mit der Maus vergrößern. Am Handy ist auch die Schrift sehr groß. Auch das Licht, da sind Speziallampen. Die Firma heißt Videbis, dort gibt es verschiedene Beleuchtungen. Zum Beispiel Tischlampen, Stehlampen usw. Das ist sehr gut.
Was sind meine Wünsche und Ziele… mehr Taubblinde zu treffen. Viele Taubblinde sind jetzt sehr zurückgezogen. Ich möchte, dass man offener wird und sich mehr zeigt. Auch die taktile Gebärdensprache und das Lormen sollte man zeigen. Dass man auch eine angenehme Gemeinschaft hat. Das wäre gut. Es gibt viele Gehörlosenvereine, da ist aber fast niemand der Taubblind ist. Taubblinde Personen sind meist isoliert zu Hause. Als ich 28 Jahre war, habe ich begonnen, offener zu sein, weil ich damals in Deutschland war unter vielen taubblinden Personen. Das war sehr interessant für mich taktile Gebärdensprache zu sehen und das Lormen. Ich hab mir das alles angesehen und das war neu für mich.
Ich habe mich nicht einsam gefühlt, weil ich gesehen habe, dass andere auch das Usher Syndrom haben. Ich habe mich gut gefühlt dort in der Gemeinschaft, mit taktiler Gebärdensprache und Lormen … es war eine schöne Zeit. Dann bin ich zurück gekommen nach Österreich, nach Wien, und es war aus … kein Plaudern, keine taktile Gebärdensprache, kein Lormen. Und ich habe gedacht – immer so weit fahren? – ich möchte in Österreich die Leute aufwecken! Dann habe ich überlegt wie ich das machen kann. Also habe ich begonnen Vorträge mit dem Thema „Mein Leben mit Usher Syndrom“ zu halten und über den Umgang mit Usher Betroffenen.
Ich habe ein halbes Jahr lang gebraucht um den Vortrag mit drei Bildern, Beleuchtung, Abstand, Lichtempfindlichkeit, Lormen, taktiler Gebärdensprache auszuarbeiten. Dann habe ich probiert den Vortrag zu halten, in Österreich. Bis jetzt hab ich den Vortrag schon ungefähr 40 mal gehalten. Am Anfang in Wien war Interesse da. Dann habe ich den Auftrag bekommen für Niederösterreich, Oberösterreich und es wurden immer mehr Aufträge. Mir ist aufgefallen, dass gehörlose oder schwerhörige Personen nicht wissen wie sie mit Usher-Betroffenen, oder Taubblinden, kommunizieren sollen. Durch den Vortrag haben sie das Usher Syndrom besser verstanden und sich etwa das Lormen angeeignet. So wurde die Kommunikation besser. Und 2007, nein, 2017 habe ich begonnen ein Taubblindencamp in Oberösterreich anzuregen.
Zehn Taubblinden-Dolmetscher, hörende Personen, die mit Taubblinden Personen per taktiler Gebärdensprache, Lormen oder Schriftdolmetschen kommunizieren können und auch den richtigen Abstand wissen. Dieses Camp war wie ein Austausch-Treffen zu dem man von ganz Österreich gekommen ist. Das Taubblinden-Camp und der Stammtisch in Oberösterreich, das ist ein bis zweimal im Jahr ein Treffen, damit Taubblinde Menschen nicht immer alleine zu Hause sitzen sondern zusammenkommen, und das immer mehr. Bei meinem ersten Zusammentreffen mit Taubblinden Personen in Wien waren es neun Leute, jetzt sind es ungefähr 40 Leute. Es wird immer mehr. Ich weiß nur es gibt ca. 1400 Taubblinde in Österreich, das ist viel. Aber ich kenne nur 40 davon. (jr)