Als der Junge aber nach vielen Jahren als Erwachsener in das Dorf zurückkam, hatte er eine eigene Sprache. Diese Sprache lehrte er meiner Großmutter. Er hatte viele Jahre am Händemeer gelebt und dort vom Meer die Sprache der Hände gelernt. Weißt du, das Händemeer ist etwas ganz Besonderes. Es ist ein Meer aus vielen Millionen Händen. Mehr kann ich aber nicht erzählen. Mehr weiß ich nicht. Du musst aber eins wissen, der Weg zum Händemeer ist gefährlich und weit.“ In den nächsten Wochen ging Lunian oft zur alten Frau. Er ließ sich alles immer wieder erzählen. Seine Sehnsucht, das Händemeer zu sehen, wurde immer größer. Er musste zum Händemeer gehen.
Lunian packte seinen Rucksack und nahm sein Zelt. Er wollte so lange am Händemeer bleiben, bis er das ganze Geheimnis dieses Meeres verstand. Er versuchte es seinen Eltern zu erklären und benutzte die Gebärden der alten Frau: „Ich gehe zum Händemeer. Ich bleibe lange fort. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme. Ich muss die Sprache der Hände lernen.“ Seine Eltern verstanden ihn nicht. Sie fühlten aber, dass sie Lunian nicht zurück-halten konnten. Sie wussten, dass Lunian zu Hause nicht glücklich war. So ließen sie ihn gehen.
Lunian wanderte los. Seine Reise war lang und mühsam. Er durchquerte viele Dörfer. Er konnte neue Menschen kennen lernen und sah viel von seinem Land. Doch er blieb nie lange an einem Ort. Sein Ziel war das Meer. In jedem Dorf fragte er mit den Gebärden der alten Frau: „Wo ist das Händemeer? Wie komme ich dahin?“ Die Menschen verstanden ihn aber nicht. Das Land wurde immer flacher. Eines Tages sah Lunian endlich das Meer am Horizont.
Zur gleichen Zeit lebte auf der anderen Seite des Händemeeres in einer kleinen Stadt ein Mädchen. Es hieß Najad. Auch Najad konnte nicht hören. Najad ging jeden Tag zum Hafen. Sie liebte das Meer und den Hafen. Das Meer war gefährlich, aber es gab einige mutige Händler und Fischer, die keine Angst hatten auf das Meer zu fahren. Oft kamen Schiffe im Hafen an. Najad wartete immer aufgeregt auf jedes neue Schiff. Sie freute sich auf die vielen neuen Menschen.
Obwohl Najad nicht hören konnte, verstand sie die Matrosen und Fischer. Sie sprachen zu ihr mit dem Körper und den Händen. „Das haben wir vom Meer gelernt,“ erzählten sie. „Nachts haben wir Zeit und beobachten die Hände. Die Wellen berichten uns von seltenen Fischen, sonderbaren Tieren und von fernen Ländern.“ Die Fischer erzählten auch von den vielen Abenteuern, die sie auf den langen Fahrten über das Meer erlebten. Sie schwärmten von den langen Nächten auf dem Meer, wenn die Hände im Mondlicht glitzerten.
Händemeer
Eine Fantasy-Geschichte in Gebärdensprache
Idee: Jens Lubbadeh
Bearbeitung für gehörlose Kinder: Karin Kestner
Illustrationen: Gabriela Silveira
(C) 2004 Verlag Karin Kestner
wwww.kestner.de
ISBN: 3-00-013760-2