Vor langer Zeit lebte in einem kleinen Dorf ein kleiner Junge.
Sein Name war Lunian. Das Dorf lag in einem wunderschönen grünen Tal, mit vielen Wiesen und alten großen Bäumen. Es gab viele kleine Dörfer in diesem weit entfernten Land. Die Menschen in den Dörfern waren Bauern oder Handwerker. Sie arbeiteten alle sehr hart. In einem dieser Dörfer lebte Lunian.
Lunians Lieblingsplatz war die große Eiche in der Mitte des Marktplatzes. Oben in der Eiche saß er jeden Tag und beobachtete die Menschen. Sie standen vor ihren Häusern oder im Geschäft und bewegten ihre Lippen. Er versuchte immer heraus zu finden, warum die Menschen die Lippen bewegten, aber eine Lösung fand er nicht. Für Lunian waren die Menschen wie die Fische im Dorfteich.
Auch die Fische machten immer die Lippen auf und zu und auf und zu. Lunian war ein ganz besonderer Junge. Lunian konnte nicht hören. Lange Zeit wusste er aber nicht, warum er so besonders war. Als Lunian 12 Jahre alt wurde, begriff er, dass er anders war als alle Menschen im Dorf. Alle Menschen konnten hören und sprechen, nur er nicht. Er wurde sehr traurig und fühlte sich sehr allein. Oft weinte er und fühlte tief im Innern einen Schmerz. Er verstand nicht was die Menschen sprachen und keiner konnte es ihm erklären.
Eines Tages saß Lunian traurig am Brunnen vor dem Dorf. Er beobachtete die Kinder. Sie lachten und sprangen herum. Nie spielte er mit diesen Kindern. Er wusste nicht was sie von ihm wollten, wenn sie wieder ihre Lippen bewegten. Und so blieb er fern von diesen Kindern. Als Lunian umschaute, sah er eine alte Frau im Schatten eines Baumes sitzen. Sie saß in einem Schaukelstuhl und winkte ihn heran. Lunian ging zu ihr. Er fühlte sich von der alten Frau angezogen.
Die Frau sprach zu ihm: „Lunian, ich weiß, du bist nicht glücklich. Du hast gemerkt, dass du nicht hören und sprechen kannst wie andere Menschen. Aber ich weiß, dass es noch etwas anderes gibt als Hören und Sprechen. Es gibt eine Sprache, die du sehen kannst, meine Großmutter lehrte sie mir vor langer Zeit ein bisschen.“ Plötzlich merkte Lunian, dass er die Frau ein bisschen verstanden. Sie hatte aber nicht die Lippen bewegt. Sie sprach nur mit den Händen. Mit großen, stauenden Augen stand Lunian vor der alten Frau. Die Frau erzählte weiter: „Meine Großmutter hat alles von einem Mann erfahren, der genauso war wie du. Er war als Kind auch nicht glücklich, weil er nicht hören konnte. Eines Tages verschwand er aus seinem Dorf. Im Dorf erzählten die Menschen, dass er zum gefährlichen Händemeer gegangen sei.
Händemeer
Eine Fantasy-Geschichte in Gebärdensprache
Idee: Jens Lubbadeh
Bearbeitung für gehörlose Kinder: Karin Kestner
Illustrationen: Gabriela Silveira
(C) 2004 Verlag Karin Kestner
wwww.kestner.de
ISBN: 3-00-013760-2