Melanie Lauschke: Herr Huber, Sie befassen sich intensiv mit der Barrierefreiheit von audio-visuellen Medien. Worauf beruft sich Ihre Forderung nach einem umfassenden, qualitativ hochwertigen und gleichberechtigten Zugang zu Information und Unterhaltung für gehörlose und schwerhörige Personen?
Lukas Huber: Ja, gute Frage. 1980 war der Vorstand des Österreichischen Gehörlosenbundes aktiv, vor allem Präsident Dimmel hat gekämpft, dass der ORF Untertitel einblendet. Damals war die Untertitelung sehr gering und damals schon hat die Gehörlosengemeinschaft mehr Untertitel gefordert. Es gab keine Gesetze, in denen stand, dass untertitelt gemacht werden müssen.
Jetzt gibt es einige Gesetze: Zum Beispiel die UN-Behindertenrechtskonvention mit Artikeln zum Ausbau von Barrierefreiheit – u.a. im Medienbereich, zur Förderung von Gehörlosenkultur und Gebärdensprachen, zu technischen Formaten in Medien wie Untertiteln und Gebärdenspracheinblendung. Für gehörlose Menschen ist das alles wichtig! Heute sind Untertitelung und Dolmetschung geregelt, das ist sehr gut.
Melanie Lauschke: Was müsste der ORF als öffentlich-rechtlicher Sender tun, um barrierefreies Fernsehen anzubieten?
Lukas Huber: Der ORF muss zukünftig folgendes tun: Der ORF verfügt über ein Budget, das aus Einnahmen der GIS-Gebühren, Werbung und sonstigen Einkünften besteht. Aus diesem Budget wird ein kleiner Teil für den Ausbau von Barrierefreiheit aufgewendet. Was muss ORF nun tun? Er muss die Finanzierung von Barrierefreiheit in der ORF TVthek und Flimmit erhöhen. Bis jetzt gibt es noch keine Live-Untertitelung im ORF TVthek. Im ZIB2 gibt es Interviews im Fernsehen in Kurzfassung mit Untertiteln, aber das gleiche Interview auf ORF Tvthek wird als Langfassung ohne Untertitel angeboten. Es fehlt die Untertitelung bei Bundesland-Sendungen um 19 Uhr.
Zukünftig müssen ÖGS-Dolmetscheinblendungen auch in Live-Sendungen angeboten werden, in Informationssendungen, Pressekonferenzen, Wahlberichten und Wahlergebnissen, sei es bei Nationalrats-, Bundespräsident-, Landtags- oder Gemeinderatswahlen. Es ist wichtig, dass sie alle barrierefrei gestaltet sind! Der ORF hat zwar bisher schon gehörlose und schwerhörige DolmetscherInnen aufgenommen, aber der ORF muss noch mehr tun: Bei Ausstrahlung von Dolmetscheinblendung oder gebärdenden Personen im Bild muss auf zB. auf gute, helle Beleuchtung geachtet werden. Und es müssen mehr Kindersendungen mit ÖGS angeboten werden.
Melanie Lauschke: Ist der ORF verpflichtet, alle Sendungen barrierefrei zu gestalten? Wie viele und welche sind denn jetzt untertitelt oder gedolmetscht?
Lukas Huber: Was den ORF betrifft: Im Jahr 2020 hat das Parlament das ORF-Gesetz novelliert und dem ORF auferlegt, bis zum Jahr 2030 alle 4 ORF-Kanäle umfassend barrierefrei zugänglich zu machen. Das Gesetz verpflichtet den ORF dazu.
Wieviel Untertitel und ÖGS gibt es?
Im Jahr 2019 waren in ORF1 68%, bei ORF2 72% und bei ORF III 31,5% der Sendungen untertitelt. Bei ORF Sport+ noch weniger, und zwar 1,5%. Bei diesen Zahlen handelt es sich um Untertitelungsquoten.
Der Anteil von Sendungen mit ÖGS Dolmetschung beträgt auf allen 4 ORF-Kanälen zusammengerechnet 5%. Das sind 445 Stunden im Jahr 2019.
Melanie Lauschke: Gibt es Gesetze, die den ORF in die Pflicht nehmen? Müssen sich private Fernsehstationen an dieselben Gesetze halten? Wird die Missachtung von Gesetzen sanktioniert?
Lukas Huber: Ja, es gibt Gesetze, die für ORF relevant sind und die er befolgen muss. Im ORF-Gesetz steht einiges, das der ORF machen darf oder machen muss. Weiters gibt es auch das Behindertengleichstellungsgesetz, das indirekt Einfluss auf den ORF nimmt. Beide sind wichtig. Für Privatfernsehen gelten andere Gesetze, zum Beispiel das KommAustria-Gesetz, das 2020 vom Parlament novelliert und beschlossen wurde. Private Fernsehanbieter müssen es befolgen. Auch das Behindertengleichstellungsgesetz gilt für Privatsender.
Der ORF muss bis Jahr 2030 alle Programme barrierefrei gestalten, sagt das Gesetz. Was müssen die Privatsender erfüllen? Verpflichtungen betreffen nur jene, die im Jahr 500.000 Euro Umsatz aufweisen. Wer weniger als 500.000 Euro jährlich umsetzt, den betrifft das Gesetz nicht, sie müssen nichts für Barrierefreiheit tun. Wer darüber liegt, muss in Barrierefreiheit investieren, weil sie über genügend finanzielle Mittel verfügen.
Für ORF und Privatsender gelten zwar unterschiedliche Gesetze, sie haben aber eines gemeinsam: sie müssen Aktionspläne und einen Stufenplan erstellen, um Fortschritte sichtbar und messbar zu machen. Der Zeitraum der Aktionspläne beträgt 3 Jahre, also innerhalb 3 Jahren ist Zeit für die Umsetzung.
Wer macht diese Aktionspläne?
Der ORF erstellt sie in Abstimmung mit Interessensvertretungen, zB. mit dem Österreichischen Gehörlosenbund, dem Österreichischen Blindenverband und dem Österreichischen Behindertenrat. Gemeinsam werden die Aktionspläne entwickelt, um die Ziele in 3 Jahren sichtbar zu machen.
Auch die Privatsender müssen mit diesen Organisationen zusammenarbeiten mit dem gleichen Ziel, innerhalb von 3 Jahren die Barrierefreiheit zu erhöhen. Bei Privatsendern gibt es aber ein Spezialfall. Wenn sie kein Aktionsplan vorweisen können, drohen ihnen Strafen. Auf einen privaten Fernsehsender kann 10.000 Euro Geldstrafe kommen. Für den ORF ist keine Geldstrafe vorgesehen.
An welche Stelle müssen ORF und Privatsender ihre Aktionspläne übermitteln?
In Österreich gibt es eine Behörde, die RTR/KommAustria, sie beaufsichtigt die Medien. Aktionspläne und Berichte werden an die Behörde übermittelt. Sie evaluiert die Steigerung von Barrierefreiheit. Die RTR/KommAustria übernimmt auch die Rechtsaufsicht: Wenn ein Privatsender zB. gegen die Auflagen zum Ausbau der Barrierefreiheit verstößt, dann kann die Behörde eine Geldstrafe verhängen. Grundlage dafür bilden die Gesetze, die im Jahr 2020 beschlossen wurden.
Melanie Lauschke: Wird die Qualität der Einblendungen geregelt und geprüft?
Lukas Huber: Auf Grund der Ausbreitung des Coronavirus hat die Bundesregierung im März 2020 erste Pressekonferenzen abgehalten, um die Bevölkerung zu informieren. Diese ersten Pressekonferenzen wurden nicht gedolmetscht. Die Informationen waren aber sehr wichtig! Die österreichische Gehörlosengemeinschaft hat protestiert und aufgefordert, dass Pressekonferenzen gedolmetscht werden. Ab etwa der sechsten Ausstrahlung wurden die Reden der Bundesregierung endlich gedolmetscht.
Melanie Lauschke: Welche Form der Einblendung von Dolmetscher*innen wünschen Sie sich?
Lukas Huber: Es gab damals noch keine klare Regelung, wie das konkret umgesetzt werden soll. Wir haben beobachtet, dass eine Vielfalt von Formaten eingesetzt wird: Die Bundesregierung, der ORF und die Bundesländer gestalten die Dolmetschung sehr unterschiedlich. Die Größe der Dolmetscheinblendung wurde mehrmals verändert. Es dauerte etwas, bis die Größe gepasst hat. Auch der Tiroler Gehörlosenverband hat die Tiroler Landesregierung kontaktiert und wegen der Größe der Dolmetscheinblendung solange interveniert, bis es gepasst hat. Das heißt, wir brauchen klare Regeln. Optimal wäre die Höhe der Dolmetscheinblendung von mindestens der halben Bildschirmhöhe. Bei etwa 25% der gesamten Bildschirmhöhe wird es schon zu klein. 50% ist schon okay. Die Breite kann man flexibel regeln. Wichtig ist auch gute Beleuchtung. Wir dürfen nicht auf gehörlose ältere Menschen und mit Sehschwierigkeiten vergessen. Die Sichtbarkeit der Mimik im Gesicht von DolmetscherInnen ist Voraussetzung, um die Inhalte verstehen zu können. Für die Qualität ist das wichtig.
Melanie Lauschke: Welche Forderung richten Sie an die Politik zur Schaffung von barrierefreien AV-Medien?
Lukas Huber: Meine Forderung an die Politik gilt dem Ausbau von Barrierefreiheit in den Medien. Klar, es braucht Geld. Die Öffentliche Hand stellt Förderungen für Filmschaffende und Unternehmen, die Filme produzieren, zur Verfügung. Sie sind verantwortlich dafür, dass finanzielle Mittel zweckgebunden werden. ZB. Früher wurden finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, ohne dass die Empfänger verpflichtet wurden, zusätzlich Untertitel oder ÖGS zu produzieren. In Zukunft darf darauf nicht mehr vergessen werden. Es gibt Förderungen mit Bestimmungen für Barrierefreiheit, aber nicht umfassend genug. Barrierefreiheit wird bisher nur im geringen Ausmaß gefördert. Als 2020 ein neues Gesetz beschlossen wurde, waren die Privatsender verzweifelt und überfordert, weil sie zu wenig Förderung für Barrierefreiheit erhielten. Momentan ist für sie 100% Untertitel nicht vorstellbar. Etwa 1% vielleicht ja, aber sie brauchen mehr Förderung.
Noch ein Wort zu den politischen Parteien: ÖVP, die Grünen, SPÖ, FPÖ und NEOS veranstalten ihre Pressekonferenzen regelmäßig mit Livestreams via Internet. Es werden keine Live-Untertitel produziert. ÖGS-Dolmetschung wird bisher nicht oder zu wenig organisiert. Auch die Parteien haben die Aufgabe, sich um die Barrierefreiheit zu bemühen. Es wird bald eine Bundespräsidentenwahl kommen. Auch die Wahlwerber müssen sich in ihren Videoclips um die Barrierefreiheit kümmern, dazu verpflichtet sind sie aber nicht. Es gibt also noch Löcher.