Oralismus hat das Bildungssystem früher dominiert. Gebärdensprache wurde nicht gefördert, sondern verboten. Sogar in den Pausen. Wir haben mit der Sonderpädagogin Silvia Kramreiter über ihre Erfahrung im alten und aktuellen Bildungssystem gesprochen.
Transkript des Interviews:
Gebärdenwelt.tv: In Niederösterreich wird gerade über eine Deutschpflicht in Schulen besprochen, also, dass Kinder in den Pausen nur Deutsch reden können. Schon früher gab es so eine ähnliche
Situation für gebärdende Kinder. Kannst du uns vielleicht ein bisschen davon erzählen?
Silvia Kramreiter: Ja, mich erinnert das…. Das ist fast ein Flashback, muss man sagen. Also wirklich, es sind die 90er Jahre, also ein bisschen vorher sogar. Also, ich kann da eigentlich aus eigener Erfahrung sprechen. Ich hab im 92er Jahr selbst angefangen an dem Bundesinstitut für Gehörlosen Bildung. Und da war einfach Gebärdensprache nicht wirklich präsent. Schon gar nicht im Unterricht. Wann es präsent war, dann war es eigentlich in den Pausen. Wieder so wie jetzt Pausensprache Deutsch.
Und das ist aber auch nicht gern gesehen worden. Also das war früher ein gewisses… Man hat es zwar irgendwie toleriert, aber man hat es nicht gefördert. Und man hat es schon als Lehrkraft einfach vermieden. Man hat ja auch selbst nicht Gebärdensprache gekonnt. Das war einmal wichtig.
Das war ja auch genau wieder die Parallele, warum Pausensprache Deutsch? Scheinbar, weil man es nicht versteht, wenn sie in einer anderen Sprache sprechen, die Kinder. Und genau das war bei uns ja auch so.
Also wenn die Kinder da gebärdet haben in den Pausen, war die Angst da, man kann ja eigentlich nicht verstehen, weil die Lehrerinnen, das selbst nicht gekonnt haben. Das heißt: Auch da eher diese Angst davor, die Kinder nicht zu verstehen, was sie so sprechen. Also, das sind sehr viele Ähnlichkeiten.
Und ja, das hat sich natürlich jetzt schon völlig verändert. Das muss man dazu sagen.
Bei diesem Thema „Pausensprache Deutsch“ zum Beispiel, auch im Rahmen der Mehrsprachigkeit und in anderen Sprachen, dass wir da schon natürlich auch Stellungnahmen abgeben.
Weil das eben genauso mich betrifft. Geschichtlich gesehen nicht jetzt, aber halt früher. Und ich kann mir das sehr gut einfinden, dass das auch pädagogisch und wissenschaftlich einfach ein No-Go ist.
GW: Es geht eher von der Lehrenden-Seite aus, also aus Angst, dass man die Kinder nicht versteht?
Kramreiter: Ja, bei uns war das damals sicher auch unter anderem so, wenn man die Sprache der Kinder nicht versteht, dann ist es natürlich so,
dass man gewisse Ängste hat, auch nicht weiß, worüber sie sprechen. Vielleicht sprechen sie dann über einen und man hat nicht nur die Ängste, glaube ich. Sondern die Problematik ist, die Angst, dass sie diese Mehrheitssprache nicht erlernen wollen, unter anderem, dass es eben Deutsch, auch bei uns ist es Deutsch.
Ich glaube, das ist einfach eine Kombination von vielen, vielen unterschiedlichen Faktoren, wo einfach die Mehrheitsgesellschaft gewisse Angst hat, auch ein Unverständnis dann natürlich auch verlangt Anpassung an die deutsche Mehrheitssprache.
Sind einfach viele Faktoren, die da zusammenspielen. Das erinnert mich wirklich sehr stark an die 90er Jahre bei uns.
GW: Wie hat es dann konkret funktioniert? Also wie haben gehörlose Kinder miteinander kommunizieren können?
Kramreiter: Na ja, die Kinder selbst haben ja immer kommuniziert in ihrer Gebärdensprache, auch damals, halt manchmal heimlich. Manchmal, wenn man sich umgedreht hat und
zur Tafel gedreht hat, haben sie natürlich gebärdet. Aber wenn man sich dann wieder
Richtung Kinder gedreht hat, waren dann die Hände wieder schön brav irgendwo seitlich. Die waren natürlich Natives, auch damals schon und die haben das dann weitergetragen in die Community. Zum Beispiel an Kindern von hörenden Eltern.
Das heißt unterschwellig war Gebärdensprache immer präsent. Nur nicht als Unterrichtssprache und als Bildungssprache.
GW: Und war da quasi dann erwartet, dass die Kinder einfach von Lippenlesen dann alles mitkriegen?
Kramreiter: Ja, genau das war das ja. Das war für mich interessant. Also vielleicht ganz kurz
zu meiner Geschichte, weil ich selbst mir das auch nicht vorstellen habe können, also ich habe selbst an der Pädagogischen Akademie damals in den er Jahre schon über Gebärdensprache und Lautsprache geschrieben und habe dann ein Praktikum gemacht im Bundesinstitut für gehörlosen Bildung und habe mir eben dort die Klassen angesehen und habe eben insbesondere eine Fokusklasse mir ausgesucht, wo ein Kind drinnen gesessen ist, ich glaube es war 14 Jahre, ein Bursche. Damals gehörlos, völlig taub, also völlig gehörlos, der keine Sprache hatte, weder in der Gebärdensprache noch in der Lautsprache.
Und ich habe diesen Burschen 14 Tage lang beobachtet und habe mir auch gedacht: “Wie geht das? Dieser Bursche ist jetzt neun Jahre hier an diesem Bundesinstitut und kann keine Sprache!“
Er hat auch das Lippenablesen nicht wirklich gelernt und auch Gebärdensprache sowieso nicht, weil sie wenig angewandt wurde, von den Kindern vielleicht. Aber es war eigentlich so, dass ich mir gedacht hab,“ Wie funktioniert das?“ So wie Sie sich das fragen, so kann’s nicht gehen.
Also nach 14 Tagen habe ich gewusst, so kann’s nicht gehen. Der Bursch war kognitiv völlig normal. Also hat bei seinem Onkel in der Tischlerei gearbeitet, hat natürlich keine Lehre machen können, weil er auch keine Schriftsprache erlernen konnte. Wenn man keine Sprache hat, kann man auch nicht schriftsprachlich lesen und schreiben erlernen.
Das heißt, genau diese Frage habe ich mir gedacht, muss ich mir anschauen. Weil so kann es eben nicht gehen. Und somit habe ich mich gemeldet für das Bundesinstitut für Gehörlosen Bildung und habe gedacht
„Ich muss ins System hinein, sonst kann ich sowieso nichts verändern und mir das einmal anschauen.“
Und wie ich mir es dann genau angeschaut habe, habe ich mir gedacht: Na, also ich werde mehrere, zwei, drei Jahre arbeiten. Ich habe selbst halt noch von den Kindern ein bisschen Gebärdensprache gelernt.
Aber hab ich gewusst, dass rein vom Ablesen oder irgendwie, so kann’s nicht gehen. Es war mir sehr schnell klar. Also ich war damals sehr jung, 21 Jahre und hab mir gedacht: „Ja, sicher nicht.“
Das ist nicht pädagogisch verantwortlich. Also verantwortungsvoll. Also sicher nicht.
GW: Also welche Konsequenzen hat dann so ein Sprachverbot für die Bildung?
Kramreiter: Die Konsequenzen hat man eh überall gemerkt, die Bildung war desaströs und die Kinder haben nicht wirklich ordentlich lesen schreiben gekonnt. Sinnerfassendes Lesen war unmöglich, teilweise Produktion, also Textproduktion, auch in den oberen Klassen war ein Desaster.
Also wann ich mir das angeschaut habe, ich bin auch supplieren gewesen in den unterschiedlichsten Klassen, welche Texte 14-Jährige produziert haben. Also es war unmöglich, also ich hab gewusst, so kann’s nicht gehen. Teilweise waren das ja Analphabeten, die dann diese Schule noch mit neun Jahren verlassen haben. Ja, und so war das eigentlich dann auch, dass sich das so entwickelt hat.
Wir haben zwei Lehrerinnen an der Schule gehabt, die Codas waren, das war eine alte Lehrerin, die Coda war und eine junge Lehrerin. Von denen haben wir dann sozusagen heimlich Gebärdensprache, ein bisschen gelernt. Nicht direkt heimlich – wir haben es schon relativ so auch geäußert. Gebärdensprache ein bisschen gelernt.
Und dann im er Jahr war das, sind noch zwei gehörlose Lehrerinnen an die Schule gekommen. Also die Frau Helene Jarmer und eben die Sonja Wagesreiter und von denen haben wir natürlich dann auch viel gelernt, also die, die sich interessiert haben. Wir waren eine Mini-Gruppe, 3-4-5 Leute.
GW: Wann ist die Situation besser geworden? Was waren da die großen Schritte?
Kramreiter: Also der große Schritt, was sicher so um die Jahrtausendwende, das war das…
Grundsätzlich, erstens mal die wissenschaftliche Begleitforschung von Frau Dr. Krausneker, eben die Klasse mit der Frau Jarmer, die das auch wirklich gut dokumentiert hat, wissenschaftlich, super aufbereitet, nachvollziehbar.
Und das zweite war auch in der Jahrtausendwende. Ich glaube gleichzeitig waren dann die ersten Gebärdensprach-Angebote an der pädagogischen, jetzigen Hochschule. Das hat damals auch die Frau Zeller eben auch ins Leben gerufen.
Da waren die ersten Kurse, die dann wirklich gewissermaßen mit Grammatik, Hand und Fuß hatten. Das war ja bis dato nicht. Das war immer nur so, ich sag jetzt einmal Wortschatz-Kurse. Wir haben halt gelernt, LBG vielleicht (Lautsprachbegleitende Gebärde).
Grundsätzlich, weiß ich nicht. Es waren wirklich nur Wortschatz-Übungen und zur Grammatik war ja eigentlich gar nichts angeboten. Der erste Kurs war damals an der pädagogischen Akademie in Wien, glaube ich. Auch genau zur selben Zeit.
GW: Im Moment wird ein neuer Lehrplan besprochen. Der ist noch in Verhandlung.
Was wären dann die wichtigsten nächsten Schritte? Was wären deine Forderungen?
Kramreiter: Also die wichtigsten Schritte wären natürlich auf alle Fälle, dass ÖGS in den Lehrplan kommt, und zwar in den normalen Regelschul-Lehrplan. So wie wir Deutsch lernen, also das heißt, so wie wir unsere Erstsprache wirklich gezielt in der Schule erlernen, so wäre das halt auch notwendig, dass man ÖGS für gehörlose oder auch CI-Kinder anbietet. Dass es bimodal, bilingual, das heißt mit beiden Sprachen Lautsprache und eben Gebärdensprache.
Mit einigen, auf alle Fälle mit einigen Stunden in der Woche, das wäre so das große Ziel und natürlich durch die Inklusion, dass man auch das für die hörenden Kinder anbietet. Das bedeutet dann auch dieses sprachliche Umfeld schafft, dass Kinder untereinander kommunizieren können, eben in ÖGS, also hörend und gehörlos.